Wie prägt Musik unsere Identität?

Eingeschickt von Angelika Johannes

Im März 2021 verbrachte Lena Wisser (geb. Vichel) aus Deutschland einige Wochen hier an der Schule Lüneburg und war über den Zusammenhalt der deutschen Lüneburger in Südafrika und die Intensität des Erhalts der deutschen Kultur verwundert. Daraufhin schrieb sie für die Uni eine wissenschaftliche Hausarbeit zum Thema: Inwiefern ist die Musik an dem Identitätserhalt der lutherischen Lüneburger in Südafrika beteiligt?

Im Laufe der Forschung führte sie mit Angelika Johannes ein Interview, das hier verkürzt wiedergegeben wird.

Was macht das Zusammenleben in Lüneburg aus?

Das Zusammenleben in Lüneburg wird in vielerlei Hinsicht von der kirchlichen Gemeinde bestimmt. Obwohl die meisten schon in Lüneburg aufwuchsen, wohnen sehr viele nach bewusster Entscheidung immer noch hier […] weil man hier als Familie ein sehr geschütztes Leben führen kann. […] Sehr viele gesellschaftliche Aktivitäten richten sich nach dem Kirchenjahr. […] Die Schüler lernen wöchentlich Luther’s Kleiner Katechismus und Gesänge auswendig. Da es ein abgelegener Ort ist, braucht man sich gerade deshalb auf vielen Ebenen gegenseitig.

An welchen Stellen spielt Musik in Lüneburg eine Rolle?

Die lutherische Kirche ist eine singende Kirche. Diese Tatsache spiegelt sich in allen Aspekten des gemeinschaftlichen Lebens in Lüneburg wider. In der Kirche steht eine neue 2017 eingeführte mechanische Orgel, die sonntäglich gespielt wird. Die Gemeinde singt kräftig mit. Der Posaunenchor und der Sängerchor treffen sich wöchentlich, spielen oder singen öfter im Gottesdienst, und musizieren auch bei anderen Veranstaltungen. Auch in den anderen Kreisen der Gemeinde und im Altenheim wird regelmäßig musiziert. Gerade deshalb findet vielseitiger Musikunterricht an der Schule statt. […]

Inwiefern spiegelt sich eine eigene Gemeinde-Identität im gemeinsamen Musizieren wider?

Vergleicht man die Musik der Lüneburger Deutschen mit „südafrikanischer“ Musik (was immer die auch wäre?!), stellt man sehr schnell fest, dass unsere Musik ihren Ursprung in Deutschland hat. In der Gemeinde werden traditionelle Gesänge der lutherischen Kirche gesungen, für den Posaunenchor werden regelmäßig Bläserhefte aus Deutschland importiert, der Sängerchor singt Mendelssohn, und Bach, und Schütz usw., und an der Schule lernen die Kinder deutsche Volkslieder kennen. […] Trotzdem kann man in jeder Gemeinde feststellen, dass einige Melodien oder Lieder ein wenig „umgedichtet“ wurden, […]. Man kann also schon erkennen, wie einer zum Beispiel „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ singt, aus welcher Gemeinde er stammt. […] und [wenn] Märsche geblasen werden, kann man merken, wer aus Lüneburg kommt. Somit beeinflusst es auf jeden Fall die „Gemeinde-Identität“. Da die Kinder sonntags im Gottesdienst auch einen Gesang auswendig hersagen müssen, […] wird er regelmäßig bei den Andachten gesungen. […] Im Schülerheim proben die Kinder nachmittags alle Instrumente, und singen abends bei der Andacht einen Gesang.

Welche Rolle wird die Musik in Zukunft für die Identität der Gemeinde spielen?

[…] In Lüneburg wird hauptsächlich traditionelle Kirchenmusik im Gottesdienst und sonst wo benutzt. Auch in naher Zukunft wird das wahrscheinlich so bleiben. Einige moderne christliche Musik ist eher schwierig mit der lutherischen Theologie vereinbar, vor allem, wenn das Prinzip „Die Form unterstreicht den Inhalt“ gilt. Die inhaltliche Tiefe, die in den Texten der Gesänge zu finden ist, kann nicht mit den sich ständig wiederholenden Texten vieler modernen Lieder verglichen werden. Es fehlt einfach zu viel. Dieses reiche Erbe der lutherischen Kirche trägt in der Lüneburger Gemeinde einen sehr hohen Stellenwert und prägt somit auch die deutsche Sprache der Menschen, das Denken (moralisch und ethisch), und gibt dem Gottesdienst einen meditativen und demütigen Charakter. Im Mittelpunkt steht Gottes Dienst an uns, und der kommt durch die Musik auch zum Ausdruck. An der Schule singen wir trotzdem mit den Schülern neue, moderne, christliche Lieder, aber die scheinen eher für die Schüler vorübergehend interessant zu sein.

Wie wirkt sich die kulturelle Segregation auf die Gemeinde-Identität in Lüneburg aus?

[…] Lüneburg ist schon eine sehr deutsche Gemeinschaft. […] Besucher aus Deutschland empfinden es in manchen Hinsichten als eine Erinnerung an gewesene und längst vergangene Zeiten Deutschlands. Die Sprache ist veraltet, viele Bräuche sind längst nicht mehr gängig, und die Gesellschaft ist meist homogen.

[…]

Ein anderer identitätsprägender Punkt, ist die Abgrenzung zu moralisch oder ethisch fraglichen Menschengruppen. Da wir in Lüneburg von christlichen Werten im gesamten Leben geprägt werden, fällt es oft schwer, sich auf andere Leute einzulassen, die von diesen Werten nicht viel halten. […] es fällt zunehmend schwer, diese Werte auch den nächsten Generationen zu vermitteln, wenn alle Prinzipien durch vermehrt heterogene Gruppen verwässert werden. […]

Wie nimmst du in dieser Hinsicht den Unterschied zu den Deutschen wahr, die in Deutschland leben?

[…] In Südafrika, bzw. in Lüneburg, sind die Menschen fast immer bereit der Gemeinschaft freiwillig zu dienen. […] Zeit, Geld und Arbeit wird gerne und oft investiert. […] Meiner Meinung nach wird hier auch viel mehr von allen „normalen“ Menschen musiziert, also Laienmusiker, wohingegen mir in Deutschland öfter Profi-Musiker begegnet sind. […] Was in Südafrika hinsichtlich der Musik fehlt, ist, den Horizont zu erweitern. Es wird sehr viel nur aus der pietistischen Zeit musiziert. Es gäbe so viel mehr! Wir haben als FELSISA ein eigenes Gesangbuch erstellt, das seit ungefähr 20 Jahren benutzt wird. […] Die Liturgie, die im Gottesdienst benutzt wird, ist auch eine eigene Form, die sonst so nicht zu finden ist. Erneuerung wäre auf jeden Fall angebracht. Aber, wie bereits oben erwähnt, ist es nicht so einfach, alles aus „Deutschland“ zu übernehmen, da es sehr oft nicht unserer lutherischen Theologie oder unserem kulturellen Charakter entspricht. Auch sprachlich wird die Lücke zwischen südafrikanischen Deutschen und den Deutschen in Deutschland größer. Hier redet jeder 3 bis 4 Sprachen, […] D.h. dass der Wortschatz eher aus dem späten 19. / frühen 20. Jahrhundert stammt, als die Vorfahren aus Deutschland ausgewandert sind. Die Einflüsse der anderen Sprachen sind deutlich erkennbar. […] Ein weiterer großer Unterschied ist die Ausdauer der Südafrikaner, die sich auch in der Gemeinschaft in Lüneburg deutlich zeigt. […] Südafrikaner hinterfragen viel weniger, und geben sich eher zufrieden mit dem, was gerade läuft. […] Oft wird Initiative gedämpft, weil es ja doch schon alles so läuft, wie es eben läuft. […] In Deutschland habe ich das sehr anders empfunden. Viele Menschen verlassen die Kirche oder suchen sich eine andere, wenn ihnen etwas nicht passt. Ich empfand sie als sehr kritisch, vor allem irgendeine Autorität gegenüber. Das fand ich sehr schade, weil die meisten Personen, die ein Amt innehaben, auch wirklich Fachwissen besitzen.

Musik verbindet Menschen, und das kann man in Lüneburg wirklich gut beobachten.