Siegfried Weinert – Lebensüberblick vor Ende 1947 – Teil 2
Die katholische Kirche war nicht dermaßen zerstört, wies aber einige erhebliche Bauschäden auf. Während sie repariert wurde, teilten wir unsere alt-lutherische Kirche mit den Katholiken. Ihre sonntägliche Messe fand immer früh morgens statt, und ich erinnere mich an den Duft des Weihrauchs, der zuweilen noch während unseres Gottesdienstes im Kirchenraum schwebte.
Mama fuhr manchmal per Bahn in den Oderbruch, wo ihre überlebende Familie nach der Flucht aus Schlesien als Neubauern eine Unterkunft und ein Bestehen gefunden hatten.
Da brachte sie Blutwurst und frisches Gemüse mit. Einmal brachte sie ein Zicklein mit, das uns, als es heranwuchs, mit Milch versorgte. Wir Kinder gingen regelmäßig in den Park, um grünes Laub, vor allen Dingen von Akazien, zum Unterhalt des Zickleins bzw. der Ziege zu sammeln. Mama war auch sehr geschickt im Garten beschäftigt. Aller Abfall wurde verkompostet. Die Vielfalt der Obstbäume und –sträucher, die uns hinterlassen worden waren, wie Birnen, Kirschen, Stachelbeeren und Brombeeren, wurden sorgsam beschnitten, gepflegt und geerntet, und aller Überfluss eingemacht. Jeder freie Platz im Garten wurde mit Gemüse bepflanzt. Alles das hat uns als Familie und manch einem Gemeindeglied aus der grassierenden Unterernährung herausgeholfen. Mama verstand es sogar, Kastanien, die es in der Dr Wilhelm Külz Strasse im Überfluss gab, zu rösten und zu Kaffee aufzubrühen.
Ähnlich gab es auch Lindenblütentee, da es an Linden in den umliegenden Straßenfluchten jede Menge gab. Mama machte auch manchen Gesundheitstee von Pflanzen, die wir zumeist auf den Spreewiesen gesammelt haben, je nach der Jahreszeit, hauptsächlich im Park.
Der Park war überhaupt ein ganz besonderer Platz, schon allein deshalb, weil er verwildert war und kaum einen Häuserblock entfernt lag. Da gab es den Rodelberg, und viele Stellen zum Budenbau, zum Herumstrolchen, zum Beschleichen mehr oder weniger eingebildeter Schätze, Meine besten Freunde dabei waren Ulrich Winkler und Reinhard Naumann, beides Mitvorkonfirmanden, und Mitschüler.
Auf Andringen meiner Eltern schloss ich mich den Jungen Pionieren an. Sie meinten, dadurch meine Zulassung zur Oberschule zu begünstigen. Ich lernte da Schach spielen und naturkundliche Studien betreiben, und daneben für den Frieden und gegen den Kapitalismus zu demonstrieren. Tom Mix und Karl May waren zwar verpönt, und auch die Bibel und der Katechismus, aber die las man eben außerhalb des Hauses der Jungen Pioniere.
Neben dem Erhalt der Familie widmeten sich unsere Eltern ausschließlich dem Wiederaufbau der Gemeinde, und insbesondere der Sammlung der Flüchtlinge aus dem Osten. Die persönliche Betreung führte sie in mehr oder weniger entfernte Orte, von denen uns Kindern Fürstenwalde Süd, Storkow, Hangelsberg, Markgrafpieske und Wriezen geläufig wurden, alles zu Fuss oder per Eisenbahn, später auch per Fahrrad.
Mama bemühte sich, einen aktiven Frauenkreis zu sammeln, und beide Eltern um die Jugend und den Kindergottesdienst. Im Pfarrhaus trafen sich die wenigen Jugendlichen der Gemeinde zu geistlichem Gespräch und mancherlei Heimspiel ein, worunter Mah-jong, das Papa aus Indien mitgebracht hatte, besonders beliebt war.
Obwohl beide nicht besonders musikalisch waren, spielte für sie die Kirchenmusik eine große Rolle. So hat Papa beim Wiederaufbau des Posaunenchores wesentlich beigetragen, besonders bei der Beschaffung von Instrumenten.
In den letzten Atemzügen des Krieges war eine Granate durchs Kirchenschiff geflogen. Ich nehme an, sie kam aus den Rauener Bergen. Der Einschuss war im oberen Teil des südöstlichen Altarraumfensters. Danach durchquerte das Geschoss das Kirchenschiff praktisch horizontal und fast parallel zur Längsachse, um zwischen Orgel und dem grossen Butzenfenster über dem Eingangsportal zu explodieren. Das Portalfenster wurde bald nach unserer Ankunft mit Backsteinen, die wir aus dem Schutt einer nahegelegenen Mietshausruine herausklauben und säubern mussten, zugemauert. Später wurde das Südostfenster repariert. Was die Orgel betraf, funktionierten der Blasebalg noch und ein oder zwei Register noch, oder waren notdürftig ausgebessert. Alles andere im Inneren der Orgel war zerstört.
Die Organistin, Frl. Böhm, und Papa haben sich sehr dafür eingesetzt, die für die Wiederherstellung der Orgel nötigen Finanzen zusammenzutragen.
Von allen Persönlichkeiten in der Gemeinde steht Frl. Böhm in meinen Erinnerungen ganz vorne dran – hauptsächlich, weil ich bei ihr Klavierunterricht hatte, und zwar so, dass ich eines Tages die Orgel richtig spielen können, also nicht klimpern sonder mit fließender Eleganz. Zwar ist aus mir nie ein Orgel- und nicht einmal ein mäßiger Klavierspieler geworden, so ist mir das, was ich mir sonst dabei an musikalischen Fähigkeiten angeeignet hatte, im späteren Leben sehr zustatten gekommen. Aber sie hatte nicht nur einen maßgeblichen Einfluss auf mein Leben ausgeübt, sondern durch ihren Enthusiasmus, ihren Einsatz und ihr Können auch auf das der Gemeinde als ganzes, besonders als einer singende Gemeinde.
Teil 3 in der nächsten Ausgabe