Siegfried Weinert Lebensüberblick bis 1953

Als die nötigen Gelder vorlagen, hielt der Orgelbauer seinen Einzug ins Pfarrhaus, wo Siegfried Weinert einige Wochen verblieb.

Als die Pfeifen gestimmt werden mussten, mussten Dorle und ich als die älteren Pastorenkinder an die Pumpe. Dorle war da kaum 13 Jahre alt und kann sich gut daran erinnern, wie sie sich zwischen Pumphebel und Haltebalken stemmen musste, um den Blasebalg in Gang zu setzen. Als alles fertig war, gaben Frl. Böhm und der Orgelbauer ein wunderschönes Orgelkonzert.

Papa gab sich auch viel Mühe mit seinen Predigten, die er fast im impressionistischen Stile kurz und bündig und geradezu fesselnd zu gestalten wusste. Das muss ihm sehr zustatten gekommen sein, da er immer damit rechnen musste, „mitgehört“ zu werden. Ich weiß, dass ihm das eine große Anfechtung war.

Etwa einmal im Jahr mindestens seit 1950 gab es einen Gottesdienst im Freien. Ich erinnere mich besonders an einen im Kiefernwald nördlich von Fürstenwalde, einen auf der Spreewiese, und einen in den Rauener Bergen. An den Gottesdienst im Kiefernwald schloss sich ein „indischer Basar“ an. Mama und Papa und sicher auch einige Gemeindeglieder liefen in indischer Tracht, mit Turbanen und Saris, umher, die wir aus Indien mitgebracht hatten. Es gab indisches Essen und mancherlei indische Sachen zu kaufen. Ich musste eine künstliche Brillenschlange an eine Leine, die über einen Ast gelegt war, aus einemKorb ziehen, während Dorle auf einer Blockflöte improvisierte. Der Erlös des Basars ging an den Orgelbaufonds.

Die Feier auf der Spreewiese war ein Reformationsfest. Das Programm musste vom entsprechenden Amt begutachtet werden. Da wollte man das Lied von der Festen Burg aus dem Programm streichen, denn es ginge uns im Neuen Deutschland nicht so schlecht. Papa hat das Amt damit beruhigt, dass der Text von dem berühmten Dr. Martin Luther stamme, und dass das Lied sowieso mit dem Neuen Deutschland nichts zu tun habe.

Im Laufe des Jahres 1952 nahm Papa an einer Pastorenkonferenz im Westen teil. Hier wurde er auf eine Missionsgesellschaft, die Bleckmarer Mission, aufmerksam gemacht, die dringend Missionare für ihr Missionsfeld in Südafrika suchte. Papa und Mama entschieden sich, diesem Ruf zu folgen, umso mehr, als ihnen der missionarische Dienst, für den sie ausgebildet waren und in welchem sie ihr Lebensziel erkannten, in Indien im Wesentlichen verweigert worden war.

Unser Auszug aus Fürstenwalde geschah in größtmöglicher Geheimhaltung. Ich glaube, Papa hatte eine Ausreisegenehmigung beantragt. Aber ihre Ausstellung verzögerte sich dermaßen, dass er sich entschloss, auf den öffentlichen Weg zu verzichten, einmal, weil es galt Termine einzuhalten, die mit der Weiterreise nach Südafrika zu tun hatten, und zum anderen Mal, weil er meinte mit Schikanierungen politischer Art rechnen zu müssen. Im Dezember 1952 und Januar 1953 waren unsere Eltern viel unterwegs. Sie trugen unser Eigentum, soweit es zerlegbar und tragbar war, und nicht per Post verschickt werden konnte, über die Köpenicker Grenzkontrollen, wo es manchmal spannungsvolle Aufenthalte gab, nach Westberlin. Wir Kinder wussten nichts von dem bevorstehenden Umzug bis auf den Tag, an dem wir uns von unseren Klassenkameraden und –lehrern verabschieden mussten, um, wie es uns erklärt worden war, zu einem Onkel mütterlicherseits in die Lausitz zu ziehen. Erst als wir in Berlin-Schöneberg aus der U-Bahn stiegen, ging es uns auf, dass der Abschied einer auf Dauer war. Meine Eltern und auch wir Kinder haben uns im fernen Südafrika gerne und dankbar an Fürstenwalde erinnert. Es war eine Zeit, in welcher wir viel Liebe und Unterstützung erfahren durften.
Ausklang: Lebensüberblick nach Anfang 1953

Nach unserer Flucht über Berlin-Tempelhof in den Westen, verblieben wir noch ein paar Monate im Bleckmarer Missionshaus, wo meine Eltern ihre letzten Vorbereitungen für den missionarischen Dienst in Südafrika trafen. Am 27. September 1953 wurde Papa von Radevormwald aus abgeordnet, und am 17. November kamen wir in Durban an. Kurz danach übernahm er eine Vakanz auf der Missionsstation Ebenezer bei Glencoe im Inneren der Provinz Natal, jetzt KwaZulu Natal. Von hier aus entwickelte sich Papas Einsatz über drei Bereiche hinaus. Einmal, bis Nachwuchs aus Deutschland eintraf, in der Zulumission. Dann als Pioniermissionar unter den Indern, die gerade in Natal einen grossen Prozentsatz der Bevölkerung ausmachen, und hier vornehmlich unter den Hindus, unter welchen es noch manche alte Leute gab, die sich in Tamulisch unterhalten konnten. Als Drittes war er ein gern gesehener und gehörter Gastprediger in den bis zu 200 km entfernten deutschstämmigen Gemeinden.

In all diesen Bereichen war Mama ihm eine große Stütze. Als sie am 27. April 1965 ganz plötzlich und unerwartet starb, ging es mit Papas Initiative zusehends zurück, bis er nach längerem Leiden in zunehmender geistlicher Umnachtung am 17. September 1986 zur endlichen Ruhe kam. Die Gräber beider meiner Eltern befinden sich auf dem Ülzener Friedhof etwa 300 km nördlich von Durban und praktisch in der Mitte ihres letzten Wirkungskreises.