Pastor Scharlach erzählt:

Mein Lebensweg – Erinnerungen (gute und andere)

“Lasset die Kindlein zu mir kommen!” (Mk. 10,14) Mit dem bekannten Heilandswort begann der eigentliche, der christliche Lebensweg.

Als Kinder haben wir, mein Bruder Werner und ich, unsere Schulferien gewöhnlich bei unserer Großmutter in Aken an der Elbe verlebt. Meine Oma war Witwe. Mein Oppa, Friedrich Sonnenburg, war Elbschiffer. 1926 ist er bei Riesa in der Elbe tödlich verunglückt.Mit den großen Elbkähnen wurden Güter und Waren von Hamburg bis in die Tschechoslowakei transportiert. Oppa arbeitete als Steuermann. Er besaß einen Elbkahn. Ich habe auch einmal so eine Reise mitgemacht. Das war ein großes Erlebnis. Meine Omma hatte einen großen Garten mit Obstbäumen und Sträuchern und viel Gemüse, wie zum Beispiel Rotkohl. Meine Omma sagte: “Blaukohl” oder “Blaukraut”. In ihrem großen Haus gab es einen Dachboden, der lag voller Gerümpel und “Krimskrams”, irgendwelchen Möbeln, Kisten, alten Sachen und Gegenständen. Eine Fundgrube an “Antiquitäten” und Sehenswürdigkeiten für einen kleinen Jungen. Eines Tages fand ich dort das Buch: “Onkel Tom‟s Hütte”. Ich habe mich darin vertieft bis es dunkel wurde und ich nur noch unter der Dachluke einigermaßen sehen konnte. Solange, bis man mich im Haus und Garten gesucht und endlich auf dem Dachboden gefunden hat.

An meine frühe Kindheit habe ich noch in Erinnerung, wie ich beim Weihnachtseinkauf, als wir vor einem Schaufenster standen, zwischen der großen Menschenmenge plötzlich meine Eltern verloren habe. Als ich dann nach langem Suchen verzweifelt und weinend an einer Straßenecke stand, hat sich ein Polizist, man nannte sie damals “Schutzmann”, meiner angenommen. Als dieser im Begriff war mich zu “trösten”, kam ein Gemeindeglied vorbei, (dessen Namen habe ich vergessen) und sagte zu dem Schutzmann: “Ich kenne den Jungen, der heißt “so und so”.

Der Schutzmann hat mich dem Gemeindeglied überlassen, der mich dann wohlbehalten zurückbesorgt hat.

Einmal habe ich meinen Vater bei seinen Besorgungen in die Stadt begleitet. Auf dem Rückweg fiel ihm unbemerkt eine kleine Papiertüte aus der Hand. Ein in unmittelbarer Nähe stehender Schutzmann hatte das beobachtet und meinen Vater leise aber scharf aufgefordert: “Heben Sie das auf”. Ich habe mich ziemlich erschrocken und befürchtete, wir würden verhaftet. Das waren so meine ersten Erlebnisse mit Polizei.

Meine meiste Freizeit habe ich auf unsrem Gemeindegrundstück, dem “Lutherhof” verbracht. Und zwar mit mehreren gleichaltrigen Jungs. Eines Tages haben wir eine Walze entdeckt, die von Ebnungsarbeiten zurückgeblieben war. Mit vereinten Kräften haben wir den Koloss hin und her bewegt und überlegt, was etwa gewalzt oder zerwalzt werden könnte. Jemand kam dann auf die ausgefallene, unverschämte Idee: “Pfarrer Kerlés steifer Hut sei ein geeignetes Objekt”. Heinz wurde “beauftragt” den schwarzen Hut seines Vaters herbeizuschaffen. Keineswegs ging es dabei um Pfarrer Kerlé, sondern um den Hut. Voller Übermut und kindlicher Rücksichtslosigkeit haben wir dann die schwere Walze über das gute Stück hin und her geschleppt und zum Krüppel gemacht. In kürzerster Zeit war der schöne, schwarze, steife Hut unseres verehrten Pfarrers zu einem lehmverschmierten, unförmigen Gebilde degradiert worden. Heinz mußte das Wrack heimlich und heuchlerisch wieder zur Garderobe zurückbesorgen. Wie sich der arme Junge wohl gefühlt hat. Aber er war der brutalen “Übermacht” einfach hilflos ausgeliefert. Nach einem kurzen “Verhör”, einer familiären “Gerichtsverhandlung”, bekam er eine Trachtprügel. Die Mitschuldigen gingen frei aus. Heimlich gefreut haben wir Missetäter uns, als unser Pfarrer nach kurzer Zeit einen neuen, steifen, schwarzen Hut hatte.

Ja, wir haben unsere Pfarrer sehr gern gehabt. Sie haben auch den Religionsunterricht an den Schulen erteilt. In der Schule ging es sehr streng zu. Für die geringste Kleinigkeit gab es heftige Prügel. Oft war uns nicht ganz klar, warum wir verprügelt wurden. Wir hatten Erdkundeunterricht. Der Kartenständer war kaputt. Der Lehrer hat mich aufgefordert, die Funktion des Kartenständers zu übernehmen und die Europakarte hochzuhalten. Natürlich werden einem nach einige Minuten die Arme müde. Ich ließ sie hinter dem Rücken des Lehrers herabsinken, zusammen mit der Karte. Die Mitschüler grinsten. Der Lehrer schien wohl gedacht zu haben, dass ich über ihn Faxen gemacht habe und schlug mit dem Rohrstock, den er gerade in der Hand hatte, heftig auf mich ein. Die Lehrer waren nicht nur hart. Sie waren eigentlich oft auch grausam. Aber man war an diese “Umgangsformen” gewohnt und konnte insofern einen guten Stoß vertragen. Demgegenüber wurden wir im Religions- und Konfirmandenunterricht von unsern Pfarrern sehr liebevoll behandelt, so dass wir gerne und fleißig gelernt haben.

Wir brauchten damals bereits den “schwanschen” Katechismus. Den wir hier im Jahre 1988 auch in unserer Synode eingeführt haben, nachdem ich von der Synodenversammlung beauftragt worden war, in Deutschland nach einem geeigneten Katechismus zu suchen.

Sehr gefreut habe ich mich immer, wenn ich auf dem Rückweg von der Schule war und unser Gemeindeglied, der Gemüsehändler Gustav Wohlmann mit
seinem Pferdewagen vorbeikam, an der Straße anhielt und mich einlud, auf seinem “1 P S Hafermotor” aufzusteigen und er mich sozusagen nach Hause brachte. Den Kauf seiner Kartoffeln empfahl er mit dem lauten Ruf: “Holländer Mäse heut, 20 Pfund für eine Mark”(Ich weiß nicht ob der Preis korrekt ist.)

Es war in Sprockhövel. Ich war etwa 13 Jahre alt als wir mit mehreren Jung‟s nach einer Sportverantstaltung auf dem Sportplatz zusammenstanden. Plötzlich kam eine Sportlehrerin von der Turnhalle den Wall zum Sportfeld runtergestürmt. Ich sah sie kommen, aber ich dachte nicht dass sie auf mich zurannte und schlug mir, sozusagen mit Anlauf, ins Gesicht. In dem Augenblick sagte einer der Mitschüler: “Der war das nicht”. Daraufhin drehte sie sich wertlos um und rannte wieder zur Turnhalle. Ich war ziemlich entsetzt. Ich habe mich nie danach erkundigt, was der Grund dieser Attacke war. Meine dabeistehenden Klassenkameraden sagten: “Überlass es uns allein”. Am nächsten Tag sah man die Lehrerin, die in einer ganz anderen Klasse unterrichtet hatte, mit einem Tintenfleck, so groß wie ein Fußball, hinten auf ihrem weißen Faltenrock.

Ich war im Konfirmandenalter, als ich im Winter mit andern Jung‟s mit einem Bobschlitten einen steilen Abhang runter raste. Bei einer dieser wilden “Fahrten” überschlug sich der Schlitten, ich brach mir mein Bein und musste ins Hattinger Krankenhaus. Meine Konfirmandenprüfung erlebte ich dann in der Krankenhauskapelle. An der Konfirmation konnte ich aber teilnehmen, nachdem ich einen “Gehgips” bekommen hatte.

Mit dem Denkspruch: “Die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft” (Jes 40,31;), nahm der Lebensweg seinen Fortgang.
Es war Krieg! Etwa drei Jahre später war man mit dabei. Aber: “Die auf den HERRN harren kriegen (ja) neue Kraft”! Diese Verheißung wurde zu einer Wirklichkeit. Militärausbildung, Fronteinsatz, 3X Lazarettenaufenthalt, Gefangenschaft, sind einige Etappen dieser dreijährigen Wegstrecke.

Meine Eltern waren nach Sprockhövel, einer schönen Kleinstadt zwischen Bochum und Wuppertal, in den Arbeitsbereich meines Vaters, verzogen. Das Verwaltungsgebäude der VEW (Vereinigte Elektrizitätswerke Westfahlen), lag zwar in Bochum aber die Stadt selber wurde nur indirekt von den VEW mit Strom versorgt. Mein Vater war Außenbeamter im Kundendienst. So lange ich mich zurückerinnern kann, war mein Vater Kirchenvorsteher und Synodaldelegierter unserer Gemeinde. Ich habe in den Semesterferien, zwischen 1948 und 1955 bei der VEW gearbeitet.

1942 habe ich mich freiwillig zur “Fallschirm-Panzer Division-Hermann-Göring” gemeldet. Eine Elitetruppe in der Luftwaffe im Fallschirmjäger- und Bodeneinsatz. Die Division setzte sich zusammen aus einem Panzergrenadier-Fliegerabwehr-Artillerie-Panzer und Fallschirmjägerregiment und bestand ausschließlich aus Freiwilligen. In den Jahren meldeten sich etwa 80% der wehrpflichtigen Jugend freiwillig zum Militär. Mit “17” wurde ich Soldat. Nach der Grundausbildung in Berlin erfolgte die Panzergrenadier- und Fallschirmjägerausbildung, sowie die Spezialausbildung an “allen Waffen” in Amsterdam, Utrecht und Amersfoort. Danach Fronteinsatz in Italien. Im Verband mit dem 1. Fallschirmregiment der Luftwaffe, besonders bei Monte Cassino. Um unserer grünen Uniform willen nannten uns die Engländer: Die “grünen Teufel von Monte Cassino”.

Ende 1943 bin ich leicht verwundet worden. Granatsplitter in den Händen. Die Wunden haben sich entzündet und ich bekam Blutvergiftung in beiden Armen. Ich kam zum Hauptverbandplatz. Der war in einem Kloster eingerichtet. Man führte mich direkt in den provisorisch eingerichteten Operationsraum. Mir war ziemlich übel. Dort stand ich eine ganze Weile. Man trug ein Bein an mir vorbei, das der Arzt gerade amputiert hatte. Ich sah nur noch einen Stuhl. Als ich mich setzen will, sagt der Artz zu mir:” Du setzt dich in meine Waschschüssel. Willst du einen Schnapps haben?” Darauf habe ich verzichtet. Ich war dort eine Nacht. Mit dem Arzt war ich zusammen in einer Mönchsklause. Dann ging es wieder zurück zu meiner Truppe.

Bald danach bin ich nach Berlin gekommen. Bei einem Bombenangriff, beim Löschen von Brandbomben habe ich durch Phosphor eine Augenverbrennung bekommen. Nach einem kurzen Lazarettaufenthalt habe ich von dort zwei Wochen Genesungsurlaub bekommen. Ich bin dann auf dem Nachhauseweg in Aken ausgestiegen., wo meine Eltern zu der Zeit sein sollten. Sie waren aber bereits am Tag zuvor abgereist. Hier habe ich zum letzten Mal meine Großmutter gesehen.
Zu Hause habe ich in den Tagen auch meinen Bruder zum letzten Mal gesehen. Das war 1943. Erst zwei Jahre später, nach Beendigung des Krieges, als ich aus der Gefangenschaft entlassen worden war, bin ich wieder nach Hause gekommen. Von meinem Bruder hatten wir zu dem Zeitpunkt noch keine Nachricht.

Fortsetzung in der nächsten Ausgabe